Text von Uwe Anhäuser, Hunsrück und Naheland, DuMont-Kunst-Reiseführer, 1987




Schöne Wohnhäuser (darunter viel Fachwerk), das ländliche Barockschloss (1774) und die Villa Plettenberg-Puricelli (1877) formen heute das anmutige Ortsbild von Bretzenheim, dem die katholische Pfarrkirche (1789-91) mit ihrer Barockhaube einen gleichsam beschwingten Akzent verleiht. Im Tal des Guldenbaches, der neben dem Ort in die Nahe fließt, erhielt sich weiter oberhalb bei der ›Eremitage‹ (Heim für Nichtseßhafte) noch ein Überrest der in den Sandsteinfelsen gehöhlten einstigen Antoniusklause, die bereits 1043 ein Ziel für Wallfahrten gewesen ist. Naheabwärts folgt Langenlonsheim, ebenfalls ein Winzerdorf, auf dessen Gemarkung seit der Römerzeit Wein angebaut wird. Die evangelische Kirche (1867) verfügt noch über einen Chor der späten Gotik (um 1500), und das katholische Gotteshaus wurde 1907/08 in neugotischen Formen errichtet. Vergleichbare Traditionen erkennt man auch im nahen Laubenheim: Unter den Römern wurde die Rebenkultur eingeführt, und die evangelische Pfarrkirche von 1864-66 ist als neugotisches Bauwerk über den Bauresten des 15. Jahrhunderts gestaltet worden. Im benachbarten Dorsheim spielt der Weinbau gleichfalls eine bedeutende Rolle, während Rümmelsheim mit seinem Ortsteil Burg Layen auch seinerseits Geschichtliches im Kranz der Reben präsentiert: Das ›Rimelisheim‹ von 1125 und das ›castro Leiga‹ waren stets miteinander verbunden; ein Rundturm als Rest der Burg erhebt sich zwischen Weingütern und Kellereien.

Nahebei führt durch das Trollbachtal, zwischen bizarren Felsköpfen und bewaldeten Hängen, die Autobahn (A61) zum Hunsrück hinauf. Sie leitet den Verkehrsstrom an Münster-Sarmsheim vorüber, das eine prachtvolle Kirche sein eigen nennt: Der Westturm (12. Jh.) zeigt noch romanische Formen, und dem 1895 vergrößerten Langhaus des 15. Jahrhunderts schließt sich ein Chor (1504) unter Netzgewölbe an. Der Meisenheimer Baumeister Philipp von Gmünd soll hier gewirkt haben, wo außerdem seltene Glasmalereien (16. Jh.) Bewunderung verdienen. Bemerkenswert sind des weiteren Rathaus (1520) und Alte Schule (18. Jh.). Münster-Sarmsheims berühmtestes Kunstwerk, das römische Sol-Mosaik, befindet sich allerdings im Bonner Landesmuseum. Von der historischen Wehrmauer des Ortes blieb lediglich ein Turm, ebenso wie von der Zollsperre ›Trutzbingen‹ (1493; gleich neben der Brücke östlich vom Ort).

Gegenüber liegt Büdesheim, Geburtsort des Dichters Stefan George (1868-1933), unter dem Umriss des Rochusberges mit seiner prächtigen Wallfahrtskirche. Was sich bei diesem Gebirgsstock nicht auf den ersten Blick zu erkennen gibt, läßt sich anhand der geologischen Strukturen (schon Goethe suchte hier Gesteine) nachweisen: Wenngleich rechts der Nahe gelegen, gehört der Rochusberg erdgeschichtlich noch zum Hunsrück.

Zwischen Bingen und Bingerbrück überspannt eine alte Brücke das Naheflüsschen knapp vor seiner Mündung in den Rhein. Allen häufig kolportierten Ansichten zum Trotz stammt sie erst aus dem Mittelalter und ist deshalb nicht mit der römerzeitlichen ›Drususbrücke‹ identisch, über welche weiland (371) Ausonius von Mainz nach Trier kutschiert worden ist. Auch vom Kloster Rupertsberg der Hildegard von Bingen, das im 19. Jahrhundert dem Eisenbahnbau zum Opfer fiel, sind kaum nennenswerte Relikte geblieben; das Langhaus der ehemaligen Klosterkirche von 1151 zeigt sich noch in spärlichen Fragmenten am Haus Rupertsberg 16 nebst einem spätgotischen Wappenportal. Bingerbrücks katholische Pfarrkirche (1890-92) erhebt sich als ansehnliche Basilika im historisierenden Stil der Neuromanik. Die Gustav-Adolf-Gedächtniskirche wurde, gewissermaßen als Widerpart, 1896 neugotisch erbaut. So ist vom alten Bingerbrück, über das W.O. von Horn im 19. Jahrhundert in seiner Zeitschrift ›Die Spinnstube‹ romantische Rittersagen veröffentlichte, wenig an originalen Zeugen geblieben. Oder ist's vor allem der sagenumwobene Mäuseturm (14. Jh.; 1855 neugotisch verändert) auf seiner kleinen Felseninsel im Rhein vor dem Ort, an welchem man nostalgisches Empfinden gleichsam ›festmachen‹ könnte?

Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der 1849-52 in dieser Landschaft lebte und dichterisch viel zu ihrem Ruhm beitrug, schöpfte in Bingerbrück am ›Hildegardisbrünnlein‹ Wasser. Droben in Waldalgesheims evangelischer Kirche ließ er im Oktober 1849 das Aufgebot für seine Eheschließung mit Ida zum Berge bestellen. Von seiner Wohnung genoss er einen beneidenswerten Ausblick über die Nahemündung: »Da uns der ganze dritte Stock vermietet war, hatten wir nach allen Seiten hin etwas zu sehen: vor uns die Nahebrücke, der Scharlachberg, die Klopp, die Kirche mit einem Theil von Bingen, rechts die Straße nach Münster und die weite Ebene bis zum Donnersberge, links der Niederwald mit dem Ehrenfels, der Zusammenfluss des Rheins und der Nahe, und ganz links der Rupertsberg; hinter dem Hause der steile Bergweg nach Weiler, daneben der Gießbach und rechts die Weinberge mit dem Rondell.«